Der Westen am Ende

Wie verzögert die Wahrnehmung der Öffentlichkeit doch ist! Zu Beginn des Ukraine-Krieges vor sieben Wochen waren Schock und Angst vor der russischen Übermacht auch dann noch allgegenwärtig, als sich die ukrainischen Erfolge schon abzeichneten. Und heute scheint die Stimmung genau ins Gegenteil gedreht: Russland sei auf dem Rückzug, Putin hätte den Krieg schon verloren - obwohl sich sein Gegenschlag doch bereits anbahnt.

Klar ist: Aus den sieben Wochen werden sicherlich sieben Monate, wenn nicht gar sieben Jahre. Der russische Präsident ist “all in”, er hat wirklich alles in die Waagschale geworfen, denn die schiere Existenz einer souveränen und demokratischen Ukraine steht Putins Traum einer eurasischen Weltmacht für immer im Wege - er will und kann sich nicht mehr mit Krim und Donbass zufrieden geben.

Und nachdem er nun die Reihen geschlossen, den Rubel stabilisiert und das erste Zeitfenster des Kriegsschocks geschlossen hat, steht der zermürbende Ermüdungskrieg gerade erst am Anfang. Leider sind die russischen Ressourcen hierfür - materiell (Militär) wie immateriell (Resilienz) - sehr hoch. Die Ukraine hingegen kann zwar immateriell mehr als mithalten, doch bei ihren materiellen Ressourcen sieht es weit schlechter aus.

Transformationskrieg

Diese Asymmetrie muss der Westen unbedingt ausgleichen. Die Analogie zum sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 ist nicht ganz falsch, doch Polen kann hierbei nicht alleine "das neue Pakistan" sein, die NATO und die ganze EU - insbesondere Deutschland - müssen mit Waffen, Waffen und Waffen das Ressourcen-Gleichgewicht wiederherstellen. Sollte das ausbleiben, wird erst die Ukraine, dann das Baltikum und schließlich die ganze Europäische Idee von Freiheit, Gleichheit und Demokratie fallen und scheitern.

Und selbst diese Ressourcen könnten langfristig nicht reichen. Die Weltordnung sortiert sich in diesen Jahren des globaldigitalen Umbruchs neu, der Westen ist aus der Zeit gefallen. Er ist nur noch eine Kategorie des Kalten Krieges, als der Norden noch die Welt beherrschte und den Globalen Süden nur als peripheres Schlachtfeld betrachtete - diese historische Ungerechtigkeit endet nun und mit ihr die alten industriellen Blöcke.

Neue globale Ströme sammeln sich unabhängig von Himmelsrichtung und Geographie, der Westen muss sich anpassen, öffnen, ja in einem solchen neuen Bund der Demokratien aufgehen - denn alleine wird er diesen Transformationskrieg nicht mehr gewinnen können. Russland hat sich alte (Indien, Iran) und neue Verbündete (China, Ägypten) in der Welt gesucht, die früher oder später Putins Autokratie stützen werden. Der Westen begreift diese Zeitenwende jedoch erst langsam, ist er jetzt endlich bereit seiner privilegierten, rassistischen, ja historischen Überheblichkeit abzuschwören?

Globalisierung der Demokratie

Es sind nur noch 18 Monate bis zur nächsten US-Präsidentschaftswahl und wer will ausschließen, dass der nächste Präsident nicht gar aus der NATO austritt? Für Putins gesamte Kriegsstrategie ist dieses Datum leider ein schlüssiger Fluchtpunkt - und ein Risiko, auf das sich Europa und der restliche Westen vorbereiten muss. Die USA sind ein zerrissener Partner und deshalb müssen wir das Undenkbare heute schon mitdenken: Wie könnte sich die EU ohne die USA noch gegen Putin und seine Verbündeten wehren?

Nur wenn sie die innere Integration endlich vertieft und zu einem tatsächlichen Bundesstaat wird; nur wenn sie ihre offenen Flanken nach außen integriert - vom Balkan über die Türkei (nach Erdogan) bis in den Kaukasus - und eben nur, wenn sie sich auch politisch diversifiziert und global alle demokratischen Kräfte gegen die autokratische Allianz sammelt. Handelsabkommen und Verteidigungsabkommen mit Indien und Indonesien, Südafrika und Nigeria, Argentinien und Mexiko - willkommen in einer globalisierten Welt, willkommen im 21. Jahrhundert.

Ein langer Krieg wirft seinen Schatten voraus, in der ersten wirklich globalen Epoche der Menschheit muss der bisherige Westen enden, um die universelle Idee von Freiheit, Gleichheit und Demokratie zu retten. Diesem Ende wohnt jedoch trotz aller Schrecken ein hoffnungsvoller Anfang inne: Die Globalisierung der Demokratie, vielleicht gar die Demokratisierung des Globus - und alles dank dem unbezwingbaren Mut der Ukrainer:innen.