Die Geburt einer neuen Epoche

Wie lange haben wir uns nach diesem Moment der Klarheit gesehnt! Nach drei Jahrzehnten der Asymmetrie und Unübersichtlichkeit schenkt uns Putin wieder einen eindeutigen Schurken, gegen dessen Aggression heute alleine in Berlin Hunderttausende auf die Straße gingen. Noch vor einer Woche war ich mir sicher, dass er eine militärische Invasion der Ukraine nicht wagen würde, denn der Preis dafür wäre schlicht viel zu hoch. Er hat es trotzdem getan und für ein Entsetzen gesorgt, aus dessen Schockstarre die Welt jetzt langsam wieder erwacht - stärker und mutiger denn je.

Was auf den ersten Blick aussah wie die mächtige Offensive einer Großmacht, schrumpft von Tag zu Tag zum letzten Aufbäumen eines Regimes, das noch im letzten Jahrhundert lebt. Alle Offensiven, die Putin seit 1999 vorangetrieben hat, waren in Wahrheit bloß Verteidigungskriege eines reaktionären Diktators. So auch dieses Mal. Die Ukraine hatte sich bereits unumkehrbar für die offene, vielfältige und demokratische Gesellschaft entschieden, der russische Präsident jedoch hat das - aus Angst um die eigene Macht - nie akzeptiert und in völliger Verkennung der Lage nun eine ungewinnbare Invasion vom Zaun gebrochen.

Diese Verzweiflungstat ist ein Zeichen eminenter Schwäche, Putin steht jetzt nackt vor uns, entmantelt und entblößt als menschenverachtender Kriegstreiber. In unserer komplexen Welt ist diese neue Eindeutigkeit befreiend und sorgt im postmodernen Wirrwarr für ein lange vermisstes Wir-Gefühl, für eine Sammlung aller demokratischen Kräfte und das ist erst der Anfang. Der aktuell vielzitierte “Epochenbruch” ist nämlich nicht nur das Ende der alten Zeit, mit ihren Reaktionären von Trump über Erdogan bis Putin - an dieser Bruchlinie vollzieht sich gleichsam die Geburt einer ganzen neuen Epoche.

Am Horizont zieht ein neuer Systemkonflikt auf, der die identitäre Zersplitterung der letzten Jahrzehnte hinter sich lässt, aber sonst nur wenig mit dem historischen Kalten Krieg gemein hat. Die globalen Kompassnadeln richten sich neu zwischen den transnationalen Kräften der Demokratie und den auf Abschottung setzenden Kräften der Autokratie aus. Begonnen hat das schon mit den Zäsuren von 2016, in deren Folge sich auch in Deutschland die politischen Lager neu sortierten - zwischen den transnationalen Grünen auf der einen und der nationalistischen AfD auf der anderen Seite.

Putins Kriegswahnsinn treibt die Herausbildung dieser Konfliktlinie nun weiter voran und erweist all seinen Brüdern im Geiste, insbesondere dem chinesischen Diktator Xi Jinping, einen Bärendienst - denn der Preis für den Angriffskrieg auf die Ukraine könnte mittelfristig der Regimewechsel in Russland und damit der Neubeginn der russischen Demokratie sein. Einen Verbündeten, auf den die autokratische Allianz eigentlich nicht verzichten kann.

Doch der Weg dahin ist noch weit, heute Nacht schlagen wieder Raketen in Kiew und anderen ukrainischen Städten ein, heute Nacht bangt die Welt wieder um Volodymyr Zelensky und all die mutigen Ukrainer:innen, die sich der Autokratie mit ihrem Leben in den Weg stellen. Für die Demokratie, für die Freiheit - und für einen globalen Frühling.