Lost Places

Je mehr ich mich mit der neuen globalen Generation und ihrem Zukunftskampf beschäftige, desto klarer wird mir tagtäglich wie sehr wir Millennials im Gegensatz dazu die Generation des Zerfalls sind. Einer, zumindest im globalen Westen, halbwegs geordneten, ja stabilen und sicheren Kindheit steht spätestens seit dem 11. September 2001 eine mittlerweile zwanzigjährige Krisenerfahrung entgegen, die sich auch heute immer noch weiter zuspitzt.

Das erklärt vieles: Unser omnipräsentes Bedürfnis nach Sicherheit, die Rückkehr der Spießigkeit, das Revival von Religion, Ehe und Familie - wir streben nach allem, was uns Halt verspricht. Der umfassende Kontrollverlust, das Rendezvous mit der Hochglobalisierung bringt eine lange nicht mehr dagewesene Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung hervor. Nostalgie und Retromantik sind die naheliegendste Reaktion unserer verunsicherten Seele. Ob Altbauwohnung oder Swing-Tanzkurs, Hipsterbärte oder Vintage-Look - bewusst oder unbewusst suchen wir unser Heil in den Identitäten der Vergangenheit.

Aber neben dieser kompensatorischen Nostalgie kommt auch immer wieder eine tiefsitzende Melancholie zum Vorschein. Verlassene Orte, verfallene Häuser und Fabriken ziehen uns magisch an - “Ruinenlust” nennt man dieses Phänomen im Englischen, die zerfallenen Stätten sind wie ein Spiegel unserer inneren Zerrissenheit. Als ob unser Unterbewusstsein mit jeder Ruine, mit jedem lost Place den Verlust der eigenen Sicherheit nochmals durchleben würde. Als ob das Düstere, das Verwilderte, das Überwuchernde uns dabei hilft, unser Millennial-Trauma zu verarbeiten. 

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Das ist nichts ganz Neues. In nahezu jedem Jahrhundert kam es immer wieder zu Ordnungszerfall und Gesellschaftszusammenbrüchen. Zum Ende der Renaissance, des Barock, der Klassik und nun zum Ende der Moderne - und jedes Mal entspringen diesen Krisen exotisierende und historisierende Nostalgien bis hin zu fantastisch grotesker Melancholie. Diese Dunkelromantik hat Tradition und gerade deshalb sollten wir uns den Gefahren solches Nihilismus bewusst sein. Wir sind nicht die erste Generation des Zerfalls und wären auch nicht die erste, die sich darin verliert.

Für den Moment bescheren uns die verfallenen Orte ein unbeschreibliches Gefühl, ich bin selbst immer wieder fasziniert wie sehr mich lost Places packen können. Doch sollten wir hierbei nicht der Illusion verfallen, die Vergangenheit könne wiederhergestellt werden. Die Erinnerung des Verfalls ist wertvoll, solange sie uns nicht lähmt oder zum Glauben verführt, dass irgendwelche verlorene Orte, verlorene Zeiten - und damit verlorene Sicherheit - wieder zurückzuholen wären. Wenn wir zu Gefangenen unserer Nostalgie werden, dann verharren wir im Gestern und kriegen die nötige Kurve nicht mehr!

Alles spitzt sich zu, heute am Endpunkt der Industriellen Ordnung hat die Menschheit das Klimasystem verwüstet, überall bricht Chaos aus. Die Hoffnung, die Rettung aus dieser dramatischen Krise kann die Vergangenheit nicht hervorbringen, denn sie ist für das Heute verantwortlich. Sicherheit ist nur noch in Zukunft, in radikaler Veränderung zu finden. Und das führt uns zurück an den Anfang: Wir melancholischen Millennials müssen uns dem Zukunftskampf der globalen Generation anschließen, bevor es zu spät ist. Sonst gibt es in ein paar Jahren und Jahrzehnten nur noch verlassene Orte und lost Places.